Forschungsprojekt des Universitätsspitals, Universität Basel und University of California San Francisco in „JAMA Neurology” veröffentlicht.
Basel / San Francisco (6. November 2023) – Schäden des Zentralen Nervensystems können bei Patienten mit Multiple Sklerose (MS) bereits bis zu 26 Monate vor dem Auftreten schleichender Verschlechterung erkannt werden. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie von Neurologen des EPIC-Teams (Expression, Proteomics, Imaging, Clinical) unter Leitung von Dr. med. Ahmed Abdelhak (University of California San Francisco – UCSF) und der Schweizer Multiple Sklerose Kohorte (SMSC) unter Leitung von Prof. Jens Kuhle (Universität Basel). Am Montag, 6. November 2023 werden die Forschungsergebnisse in der renommierten Fachzeitschrift „JAMA Neurology“ veröffentlicht.
Maßgeblich für diese Früherkennung ist die Überwachung der Konzentration von Leichtketten-Neurofilamenten (NfL) im Blut der Patienten. Als spezifischer Biomarker für Nervengewebe geben sie wichtige Hinweise über den zu erwartenden Krankheitsverlauf und die Wirksamkeit von Therapien. Dass durch erhöhte NfL-Konzentration im Blut die Zunahme des Behinderungsgrads von MS-Patienten durch schleichende Verschlechterung der Funktion des Nervensystems, auch als ‘Progression’ bezeichnet, lange im Voraus erkannt werden können, eröffnet neue Behandlungsfenster.
Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch entzündliche und degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems. Die meisten Betroffenen erkranken bereits im frühen Erwachsenenalter. Verschlechterungen des Zustands der Patienten treten häufig in Schüben auf. Neuere Erkenntnisse zeigen inzwischen, dass bereits in frühen Krankheitsphasen es unabhängig von Schüben zu Progression kommen kann. Da der individuelle Verlauf der Krankheit dabei schwer voraussagbar ist, ist es schwierig die Behandlung auf den einzelnen Patienten zeitgerecht anzupassen. Ein frühzeitiges Erkennen beginnender Progression ist deshalb entscheidend für den langfristigen Behandlungserfolg. An diesem Punkt knüpft die aktuelle Studie an.
„Unsere Ergebnisse stellen einen signifikanten Meilenstein für unser Verständnis von MS dar. Messungen von NfL im Blut können den Progressionsprozess zu einem Zeitpunkt anzeigen, in dem er klinisch noch bis zu zwei und mehr Jahre nicht erkennbar ist. Dies eröffnet neue Zeitfenster für frühzeitige therapeutische Intervention und ändert unseren Blick auf die Überwachung und Behandlung der Krankheit“, sagt der Leiter der Studie Ahmed Abdelhak vom EPIC-Team der UCSF.
Im Rahmen der Studie analysierten die Wissenschaftler Langzeitdaten von knapp 13.000 Patienten-Visiten und Blutproben, die an der Universität Basel mit hochsensitiven Verfahren gemessen wurden. Im Ergebnis stellten sie einen starken Anstieg von NfL im Blutserum zwischen 12 bis 26 Monate vor dem Auftreten von bestätigter schleichender Behinderung fest. Zum Zeitpunkt des Auftretens der Behinderung selbst unterschieden sich die Blutspiegel nicht mehr von Patienten mit stabilem Krankheitsverlauf. Das deutet darauf hin, dass die Messungen die eigentliche Nervenschädigung früher anzeigt als die körperliche Untersuchung.
Relevanz für die MS-Forschung
Die gemeinsame Studie, die zwei der größten weltweit existierenden MS-Kohortenstudien kombiniert führt die Erkenntnisse zweier Arbeiten des Forscherteams an der Universität Basel weiter, die im Februar 2022 und September 2023 im „Lancet Neurology“ veröffentlicht wurden. Darin zeigten die Schweizer Wissenschaftler nach jahrelanger Forschung den Mehrwert dieses Blutbiomarkers bei der Beurteilung von MS Patienten insbesondere in Kombination mit großen Normwertkollektiven im Erwachsenen– und Kindesalter.
„Neben den wichtigen Erkenntnissen zum zeitlichen Zusammenhang zwischen NfL-Erhöhungen und Progression bei MS, untermauert die Studie die wichtige Rolle von NfL als Früherkennungsmarker von Nervenschädigung. Die Überwachung der NfL-Spiegel ist bereits als Indikator zur Detektion von aktueller Krankheitsaktivität anerkannt, weil sie eine höhere Sensitivität als die klinische Untersuchung oder die konventionelle MRI-Bildgebung aufweist. Die Ergebnisse unterstreichen den bahnbrechenden Wert von NfL als Biomarker für die personalisierte medizinischen Behandlung“, sagt Prof. Jens Kuhle, Leiter der Neuroimmunologie, des MS-Zentrums und der Schweizer Multiple Sklerose Kohorte.
Die aktuelle Untersuchung legt den Fokus auf die Früherkennung des Krankheitsaspektes ‘Progression’ mit Hilfe erhöhter NfL-Werte im Blut. Im Mittelpunt zukünftiger Untersuchungen wird somit der Versuch stehen, der Schädigung des Zentralen Nervensystems durch frühen Therapiebeginn oder zukünftige Therapien entgegenzuwirken.
Relevanz für MS-Betroffene
Weltweit sind knapp 3 Millionen Menschen von MS betroffen. Jeder Fortschritt im Verständnis der Krankheit, der zu einer verbesserten Therapie führt, kann das Leben dieser Patienten und ihrer Familien verbessern. Durch die frühzeitige und präzise Erkennung zukünftig auftretender Nervenschädigungen eröffnen sich neue Interventionsfenster für behandelnde Ärzte. Gleichzeitig stellt der NfL-Wert im Blut einen geeigneten Indikator für die Wirksamkeit der aktuellen medikamentösen Therapie dar.
Über die Studie
Der Zusammenhang zwischen NfL-Konzentrationen und der nicht selten in verschiedener Ausprägung auftretenden Progression war ein bislang schlecht verstandenes Phänomen. Aufgrund begrenzter Stichprobengrößen mit begrenzter Nachbeobachtungszeit und unterschiedlichen Krankheitsverläufen kamen Studien zu teils widersprüchlichen Ergebnissen. Die Arbeit des EPIC und SMSC-Teams untersuchte den Zusammenhang zwischen Langzeitmessungen von Serum-NfL und dem Auftreten von Behinderung bei verschiedenen Typen von MS anhand zwei der weltweit größten Patienten-Kohorten: der EPIC-Studie der UCSF und der Schweizer Multiple Sklerose Kohorte. Dabei stellten die Forscher eine Erhöhung des NfL-Werts bei Patienten fest, bei denen im späteren Verlauf eine Verschlimmerung des Behinderungsgrads bestätigt wurde. Damit wurde zum ersten Mal ein Biomarker definiert, der eine prospektive Aussage erlaubt, d.h. den zukünftigen Verlauf der klinischen Behinderung anzeigt, wie sie mit anderen diagnostischen Verfahren nicht detektiert werden kann.
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